Von der "Hektoliterwut" zum Strukturwandel.
Entwicklungslinien der Dortmunder Brauwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert
Von Karl-Peter Ellerbrock und Heinrich Tappe
Schon im Mittelalter blühte in der freien Reichsstadt das Brauhandwerk. Aus der Bierleidenschaft der Dortmunder entsprang eine wichtige Steuerquelle, denn seit 1293 war die Stadt im Besitz des Grut-Monopols, das ihr der deutsche König Adolf von Nassau verlieh. Trotz seines guten Rufes, der weit über die Stadtgrenzen hinausreichte, löschte das Bier doch zumeist nur den Durst der Dortmunder selbst.
Erst die Einführung der untergärigen Braumethode, die sich von Bayern ausgehend seit den 1830er Jahren allmählich auch nördlich der Main-Linie verbreitete, wendete das Blatt. Die Industrialisierung revolutionierte eine Branche, die in ihren alten handwerklichen Strukturen zu erstarren drohte. Eine dichte Folge von Innovationen ermöglichte die Produktion eines länger haltbaren und schmackhafteren Bieres in industriellem Maßstab. Die Erfindung der maschinellen Kühlung durch Carl von Linde brachte den Durchbruch zu einer von Witterungsschwankungen und Jahreszeiten unabhängigen Bierproduktion. Als eine der ersten Brauereien überhaupt nutzten die Dortmunder Actien-Brauerei und die Germania Brauerei diese Basisinnovation der Brautechnik. Professor Carl von Linde überwachte hier den Aufbau der Anlage im Jahre 1881 dabei höchstpersönlich.
Um 1900 übertraf die Biererzeugung im Reich wertmäßig die Steinkohleförderung. Etwa ein Viertel der kommerziellen Welt-Bierproduktion stammte aus Deutschland. Einen Gutteil des deutschen Exports lieferten bereits zu dieser Zeit Dortmunder Braupfannnen. So lieferte die Dortmunder Actien-Brauerei nicht nur an die deutschen Nachbarn Holland, Belgien und Frankreich, sondern bis nach Indien, Japan und Australien. Die Industriestadt rangierte auf der Skala großstädtischer Bierproduktion nach München und Berlin jetzt schon an dritter Stelle.
Zu Kohle und Eisen kam das Bier als dritte Säule des industriellen Wachstums. Der Konkurrenzdruck unter den Dortmunder Braubetrieben war bereits zu Zeiten des Kaiserreichs groß. Ausdehnung der Produktion um jeden Preis hieß die Devise. Es grassierte die "Hektoliterwut", wie ein zeitgenössisches Schlagwort diese Erscheinung bezeichnete.
Der Kampf um den Kunden führte indes zu einem stetigen Konzentrationsprozess in der Dortmunder Brauwirtschaft. Existierten vor dem Ersten Weltkrieg noch 25 Betriebe im engeren Stadtgebiet, waren es fünfzig Jahre vorher noch 39 gewesen. 10 Jahre später waren sogar nur noch acht übrig. Die "big five" der Dortmunder Aktienbrauereien, die Dortmunder Union-Brauerei, die Dortmunder Actien-Brauerei, Ritter, Hansa und Stifts gelangten so in den Besitz von insgesamt 37 Brauereien, davon 14 ehemals eigenständige Dortmunder Betriebe. Neben den "big five" überlebten noch die drei Privatbrauereien Bergmann, Kronen und Thier diese dramatische Phase, die in der Weltwirtschaftskrise von 1929 einen weiteren Höhepunkt finden sollte.
Der Zweite Weltkrieg schien die Dortmunder Brauereien härter zu treffen als der Erste. Bombenangriffe zerstörten einen Großteil der Betriebe. Aus dem Zwang zum Neuaufbau sollte den Unternehmen jedoch ein Startvorteil erwachsen, als es nach 1949 galt, den großen Nachholbedarf der Wirtschaftswunderjahre zu stillen. Die Zeit eines scheinbar unaufhörlichen Wachstums begann.
Mitte der sechziger Jahre beschäftigten die sieben Brauereien mehr als 6800 Menschen, ein Zehntel der deutschen Bierproduktion kam jetzt aus Dortmund. Im Club der deutschen Hektoliter-Millionäre stellten Dortmunder Brauereien mit vier von sechs die Mehrheit. Die Dortmunder Union-Brauerei wurde zur größten Braugesellschaft in der Deutschland. Der viel zitierte Dreiklang aus Kohle, Stahl und Bier tönte nun so ungebrochen wie der Dortmunder Stolz auf das Image der eigenen Stadt. Dortmund war die "Bierstadt Nr. 1" und das nicht nur im Ruhrgebiet, sondern in ganz Europa.
Der montanindustrielle Strukturwandel jedoch veränderte auch die Basis der Dortmunder Brauwirtschaft. Es setzte ein erneuerter Konzentrationsprozess ein, ohne dass die Markenvielfalt von Bier "made in Dortmund" darunter gelitten hat.